Toptrend Livestreaming: Echt und unverfälscht

Dabeisein ist alles – wenn schon nicht vor Ort, dann zumindest live. Was für Sportübertragungen quasi seit Erfindung des Rundfunks seine Gültigkeit hat, lockt inzwischen mit ähnlicher Anziehungskraft Zuschauer auf digitale Livestreaming-Plattformen. Dank hoher Datenraten und stabiler Netze geschieht dies alles mit wachsender Begeisterung: Das Publikum liebt es, in Echtzeit mit prominenten Online-Gamern, Social-Media-Stars und Video-Influencern mitzufiebern. Neben den Web-Trendsettern interessieren sich zusehends Kulturschaffende aus Musik, Theater und Literatur für die Videoübertragung aus dem Web. Doch worin liegt eigentlich der Reiz von Livestreamings?

Echtzeitvideos erleben Boom

Die Zahl der Verbraucher, die Livestreaming-Angebote über Highspeed- und Glasfaserverbindungen nutzen, ist in Deutschland von 2013 bis 2017 um gut 50 Prozent auf mehr als 24 Millionen angestiegen. Laut StreamLabs und Newzoo verbrachten 2019 Menschen weltweit zehn Milliarden Stunden vor Twitch, dem nach wie vor unangefochtenen Marktführer unter den Livestreaming-Anbietern. Mit den Ausgangssperren und Kontakteinschränkungen dieses Jahres kam es zu einer regelrechten Explosion bei den Nutzungszahlen: Nach ersten Einschätzungen ist der Livestreaming-Sektor nicht zuletzt dank stabiler Netzinfrastrukturen zwischen März und April um satte 45 Prozent gewachsen.

Kunst schwimmt mit dem digitalen Strom

Konzentrierte sich das Angebot von Twitch, YouTube Gaming & Co. noch vor wenigen Monaten weitgehend auf das Livestreaming von Online-Spielen, so haben sich in den vergangenen Wochen mit den Nutzungszahlen auch die Inhalte der Videos verändert. Diese Entwicklung ist nicht besonders erstaunlich, mussten doch seit März viele Kulturschaffende erfinderisch werden und auf ihre Internetverbindung als Bühne zurückgreifen. Konzerte sind auf lange Sicht abgesagt, Vorträge und Lesungen können nur unter strengen Auflagen stattfinden, Theater und Kleinkunstbühnen waren oder sind noch immer geschlossen. Wenn wundert es deshalb, dass nach den Videospiel-Fans nun auch Künstler die digitale Live-Performance für sich entdecken?

Nicht zuletzt eine Frage des Geldes

Social-Media-Apps wie Facebook und Instagram oder das Social-News-Portal reddit werden schon eine ganze Weile von Künstlern für ihre Konzerte, Lesungen und Poetry Slams genutzt. Was die spezialisierten Livestreaming-Plattformen jedoch von den großen Social-Media-Anbietern unterscheidet, sind ihre Bezahlmodelle: Twitch beispielsweise bietet Autoren und Musikern über Kanal-Monatsabos gute Verdienstmöglichkeiten – vorausgesetzt, der Livestreamer in spe wird in das Partnerprogramm aufgenommen, hat mehr als 500 Zuschauer gleichzeitig und sendet mindestens dreimal die Woche. Weniger hoch hängt die Latte bei YouTube, dafür sind hier die Einnahmemöglichkeiten etwas geringer als beim Marktführer. Mit Livestreaming eröffnet sich Künstlern eine Verdienstoption, die gegenwärtige Einnahmeausfälle nicht komplett ausgleicht, zumindest aber etwas abfedern kann.

Digitaler Kessel Buntes

Kunst- und Kulturschaffende gehören sicherlich zu den größten Neuzugängen auf Streaming-Plattformen. Die Auswirkungen des Social Distancing ziehen jedoch weit größere Bahnen: Inzwischen tummelt sich eine bunte Mischung unterschiedlichster Persönlichkeiten in den Livestreams, um dort ein paar Momente aus ihrem Alltag zu teilen. Menschen filmen sich bei der Arbeit, übertragen Gebete und spirituelle Inhalte, manche lassen uns an ihren täglichen Fitnessübungen teilnehmen, und wieder andere tanzen vor laufender Kamera. Der Wunsch nach Abwechslung im tristen Homeoffice-Alltag verleitet viele Zuschauer zum Dranbleiben. Die Schar der Follower kann über Push-Nachrichten informiert werden, wenn der Livestreaming-Kanal auf Sendung geht. Viele Streamer nutzen zudem die Gelegenheit, sich über die integrierten Chat-Funktionen direkt mit ihrem Publikum auszutauschen. Mit Kommentaren, Herzen und Emojis entsteht ein Beisammensein, dass sich für viele dank stabiler Internetverbindungen beinahe real anfühlt.

On Demand vs. Unverfälschtes?

Vor dem Hintergrund, dass wir einst das On-Demand-Prinzip – also die komplette zeitliche Unabhängigkeit beim Schauen von Videoinhalten – gefeiert haben, ist die Rückkehr zur zeitlich gebundenen Liveschalte eine bemerkenswerte Entwicklung, die vermutlich zusätzlich angetrieben wurde durch ein Gefühl von Einsamkeit und Isolation, das viele im Lockdown erfahren mussten, und dem daraus entstandenen Wunsch nach menschlichen Kontakten. Auch die technischen Möglichkeiten waren dank zuverlässiger Internetverbindungen und einem zusehends dichter werden Glasfasernetz gerade zur rechten Zeit gegeben. Möglicherweise erleben wir mit der Beliebtheit von Livestream aber auch eine Renaissance des Unverfälschten: Das Online-Publikum sucht in all der Medien- und Nachrichtenflut Orientierung in echten, nicht manipulierten Inhalten. Und was wäre da besser geeignet als eine Liveübertragung mit all ihren sympathischen Versprechern und Unplanbarkeiten?

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